Lerngruppen: hilfreich oder Zeitverschwendung?
“Ein mutiger, fokussierter Mensch verfügt über enorme Kraft, aber sobald viele zusammenarbeiten, wird diese Kraft noch deutlich größer.” Gloria Macapagal Arroyo
Wenn du die Natur und deine Umgebung betrachtest, wirst du schnell feststellen, wieviel Wahrheit in diesem Zitat steckt. Ob im Bienenstock, dem Ameisenhügel oder am Fließband einer Fabrik, "Teamwork" scheint klar ein leistungsstarkes und effektives Konzept zu sein. Menschen wissen instinktiv, dass sie zusammen mehr erreichen können. Aber gilt das auch fürs gemeinsame Lernen?
Die Vorteile einer Lerngruppe liegen auf der Hand: geteilter Arbeitsaufwand, detaillierte und leidenschaftliche Diskussionen, schnelle Lösung bei Verständnisproblemen usw.
Das alles klingt wie der Himmel auf Erden, besonders wenn man sich mit einem eher trockenen und arbeitsintensiven Fach wie der Anatomie beschäftigen muss.
Aber warum sieht man dann die Einser-Studierenden meistens alleine in der Bibliothek oder ihrem Zimmer lernen? Warum lernen Studien zufolge bis zu 77% der Studierenden ohne Lerngruppe, aber beenden trotzdem vorzeitig das Studium?
Gruppenarbeit hat definitiv Vor- und Nachteile, aber egal ob sie dir beim Lernen hilft oder dich hindert, Lernen ist eine komplizierte Gleichung mit vielen Variablen. Dieser Artikel soll ein wenig Licht in das Thema Lerngruppen bringen und dir die Entscheidung für oder gegen eine Lerngruppe erleichtern.
- Die Nachteile von Lerngruppen
- Die Vorteile von Lerngruppen
- Und jetzt? Helfen oder hindern Lerngruppen?
- Zusammenfassung
- Literaturquellen
Die Nachteile von Lerngruppen
Geht es um die Entscheidung, ob etwas hilfreich ist oder nicht, sollte man zunächst jegliche Subjektivität ausschalten. Vielleicht schmeckt dir das Essen, das du gekocht hast, aber bis jemand anderes davon gekostet hat, kannst du dir nicht sicher sein, ob es wirklich lecker ist. In unserem Fall ist die beste Essenskritik die Wissenschaft. Glaubt man Experten, gibt es einige große Probleme bei Lerngruppen:
Gemeinschaftliche Hemmung
Dieses Phänomen bezieht sich auf den negativen Einfluss auf die Gedächtnisbildung beim Lernen in der Gruppe. Grundsätzlich bedeutet es, dass sich Gruppenmitglieder innerhalb einer Gruppe an weniger Details erinnern, als beim alleinigen Zusammentragen. Beispiel: Wenn eure ganze Gruppe die Äste der Arteria maxillaris zusammentragen soll, kommt ihr vielleicht auf 10 Äste. Versucht ihr euch zuerst alle einzeln zu erinnern und tragt dann die Ergebnisse zusammen, werdet ihr alle 17 aufzählen können. Das liegt daran, dass jeder seine eigene Methode hat sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Wird nun einem Mitglied der Gruppe durch ein anderes während der Wiederholung dieselbe Information auf andere Weise dargeboten, kann die eigene Methode der Erinnerung nicht optimal angewendet werden und die Erinnerungsleistung ist geringer. Schaltet man diese Störungen aus und arbeitet alleine, kann man sich daher besser erinnern.
Gemeinschaftliches Lerndefizit
Hier geht es um die negativen Folgen für das neue Einprägen von Informationen. Erarbeitet man sich Inhalte mit einer Gruppe, erinnert man sich später an weniger, als wenn man alleine gearbeitet hat. Um auf unser Beispiel der Arteria maxillaris zurückzukommen: Wenn du die Äste eigenständig lernst, wirst du sie besser beherrschen, als wenn ihr sie als Gruppe durchgeht. Die Erklärung dafür ist ähnlich wie die für die gemeinschaftliche Hemmung. Informationen, die man sich auf eigenem Wege erarbeitet hat, sind für einen selbst bedeutungsvoller als diejenigen, die man in der Gruppe zusammenträgt.
Führungsproblematik
Denke an deine letzte Gruppenarbeit zurück. Wahrscheinlich hat es sich angefühlt wie eine parlamentarische Debatte, jedes Mitglied hat gleichzeitig versucht seine Sichtweise zu erläutern und überall flogen Zettel herum. Viele Studierende wissen einfach nicht, wie man effektiv in Gruppen arbeitet. Sich mit Notizen zu beschäftigen und zum Beispiel als Thema das Gehirn zu diskutieren ist sicherlich hilfreich, aber nicht ausreichend. Um tatsächlich von einem Treffen profitieren zu können, muss es eine erfahrene Person geben, die die Gruppe leitet. Jemand, der oder die die richtigen Fragen stellt, eine zielgerichtete Diskussion ermöglicht, Feedback gibt und einschreitet, wenn es zu Verwirrung oder Ungenauigkeiten kommt. Ohne eine erfahrene Teamleitung laufen gerade ahnungslose Studierende umher wie kopflose Hühner!
Menschliche Eigenarten und Organisation
Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die Mitglieder deiner Gruppe Menschen und als solche sind sie grundverschieden. Das bedeutet: Manche werden die ihnen zugeteilten Aufgaben innerhalb der Gruppe nicht erfüllen, während andere die gesamte Arbeit erledigen. Verglichen mit dir werden die anderen außerdem unterschiedliche Intelligenz und Eifer zum Lernen mitbringen. Vermeiden kann man dies natürlich durch die Bildung von Gruppen gleichgesinnter Studierender. Aber wie leicht findet man Menschen, die perfekt zueinanderpassen? Häufig ist es unmöglich und das Resultat sind willkürlich zusammengewürfelte Teams, von denen niemand profitiert.
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Ablenkung
Das wahrscheinlich größte Hindernis in Lerngruppen. Es gibt eine hohe Chance, dass eure Treffen zu einem gemeinschaftlichen Event werden, bei dem viel passiert, aber garantiert niemand lernt. Das Fach Anatomie fordert sehr viel Aufmerksamkeit und Zeit, die du in der Uni oder Berufsschule höchstwahrscheinlich nicht haben wirst. Zeit zu verschwenden ist also das Letzte, was du gebrauchen kannst.
Die Vorteile von Lerngruppen
Es kann ziemlich entmutigend sein, sich sämtliche Kritikpunkte von Lerngruppen vor Augen zu führen: Lernrate, Lernerfolg, Führungsproblematik und die individuellen Eigenschaften der Gruppenmitglieder. Aber zum Glück gibt es einen Funken Hoffnung, falls du ein Anhänger dieser Lernmethode bist.
Manchmal besteht Lernen aus mehr als einfachem Auswendiglernen und Wiederholen. Zwar gibt es wissenschaftlich fundierte Aussagen darüber, welche Strategie wohl am besten funktioniert, wenn du sie jedoch nicht magst, wirst du sie auch nicht benutzen. Beim Lernen sollte man immer auch seine persönlichen Vorlieben berücksichtigen, damit die Arbeit zumindest ein wenig Spaß macht. Studien haben gezeigt, dass Gruppenarbeiten von Studierenden oft sehr positiv wahrgenommen werden. Und zwar aus folgenden Gründen:
Problemlösung
Häufig haben Studierende mehr Fragen, als sie ihren Dozent:innen stellen können. Dabei sind Fragen sehr gut und machen das Lernen aktiv, weshalb du dir so viele wie möglich stellen solltest. Da Lerngruppen meist aus Freunden bestehen, traut man sich innerhalb der Gruppe mehr Fragen zu stellen. Dadurch können sich Verwirrungen schneller lösen, Missverständnisse klären und Diskussionen über verzwickte Inhalte entstehen. Verstehst du wirklich den Verlauf des Nervus facialis? Frag einfach mal deine Gruppe!
Lernen und testen
Aktive Wiederholung ist beim Lernen sehr wichtig. Viele Studierende wissen das und nutzen daher die Methode, den Lernstoff zu erklären und kleine Tests darüber zu machen. (Mehr dazu findest du hier). Natürlich könntest du das alles auch in deinem Zimmer machen und der Wand die Anatomie der Niere erklären. Aber Spaß macht das nicht! Eine Gruppe ist dafür super geeignet, denn sie hört dir zu, stellt Fragen und weist dich auf Fehler hin. Und dies ist nebenher noch eine gute Übung für die anstehenden mündlichen Prüfungen, beim Physikum oder beim Examen.
Geteilter Arbeitsaufwand
Anstatt die Anatomie des Herzens alleine zu lernen, könnt ihr die Bürde untereinander aufteilen, zum Beispiel indem jeder einen Bereich übernimmt und ihr euch gegenseitig die Funktionen erklärt.
Gemeinschaftliches Erlebnis
Das Wort “Gemeinschaft” sollte eigentlich nicht mit Anatomie in Verbindung gebracht werden, aber für manche Studierende ist es unmöglich, sich an einen stillen Ort zurückzuziehen und alleine zu lernen.
Und jetzt? Helfen oder hindern Lerngruppen?
Ist es jetzt also empfehlenswert sich zu Lerngruppen zusammenzuschließen oder einfach nur Zeitverschwendung? Die Antwort lautet: Es kommt darauf an.
Das ist wahrscheinlich nicht, was du hören wolltest, aber es ist unmöglich, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben. Du musst die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen und selbst entscheiden, basierend auf deinen Erfahrungen.
Bist du jemand, der es hasst alleine zu lernen und lieber mit anderen über den Stoff spricht? Gefällt es dir, in Gruppen zu arbeiten? Dann bleib dabei. Am Ende kommt es darauf an, dass du Spaß hast. Aber denk daran, auch wenn etwas angenehm ist, bedeutet das nicht, dass es immer auch gut oder nützlich ist. Schokolade und Süßigkeiten sind köstlich, aber für deine Gesundheit nicht sehr förderlich. Es hängt auch ein bisschen von deinem Typ ab: Was bei dem einen funktioniert, kann beim anderen furchtbar daneben gehen.
Wie ist das mit dem problemorientierten Lernen (POL), die einige medizinische Fakultäten jetzt haben? Sie zeigen gemischten Erfolg. Verglichen mit den klassischen Unterrichtsmethoden bieten sie keinen Vorteil, aber sie beeinträchtigen das Lernen auch nicht. Eigentlich sind sie wie Dekoration in der Wohnung: Unnötig, aber sie machen die Situation auch nicht schlimmer. Letztendlich ist POL einfach ein alternativer Weg, um Anatomie zu unterrichten.
Alternative: Wiederholung in der Gruppe
Vielleicht ist die beste Lösung einfach die Strategie zu ändern und nicht mehr über Lerngruppen, sondern über Wiederholungsgruppen nachzudenken. Wenn du dir die Vorteile ansiehst, geht es dabei meistens um Testsituationen, das Klären von Fragen und das gegenseitige Erklären des Stoffes. All das beinhaltet aktive Wiederholung und erfordert ein gewisses Maß an Kenntnis der Materie. Wenn jeder zunächst selbst den Stoff lernt, kann man sich danach zusammensetzen und alles wiederholen, testen und sich das Thema gegenseitig erklären.
Ein guter Start sind die Artikel über Lernstrategien auf Kenhub. Dort findest du viele verschiedene Lernmethoden wie Erinnerungspaläste und Artikel, die gängige Mythen aufklären. Das kann dir wirklich dabei helfen, mit der Vielfalt des anatomischen Wissens klarzukommen und die häufigsten Fehler zu vermeiden. Willst du vielleicht auch ein paar Testfragen für deine Gruppe vorbereiten? Dann benutz doch die Quizze bei Kenhub! Sie sind perfekt, um zu überprüfen, aus welchem Holz dein anatomisches Wissen geschnitzt ist.
Grundsätzlich liegt es an dir, ob dir Lerngruppen weiterhelfen oder dich eher behindern. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt eher einen negativen Effekt durch Gruppenarbeit, aber es bedarf auch noch weiterer Studien. Außerdem gehört zum Lernen mehr als nur Auswendiglernen und Wiederholen und gerade diese Kleinigkeiten können dafür sorgen, dass dein Lernen erfolgreich verläuft. Deshalb lass sie bei deiner Entscheidung nicht außer Acht!
Zusammenfassung
Gruppenarbeit hat definitiv Vor- und Nachteile. Aber ob sie tatsächlich deinen Lernfortschritt behindert oder vorantreibt ist eine komplexe Gleichung mit vielen Variablen. Wissenschaftler betonen vor allem die Nachteile von Gruppen, nämlich:
- Gemeinschaftliche Hemmung
- Gemeinschaftliches Lerndefizit
- Führungsproblematiken
- Menschliche Eigenheiten und Organisation
- Ablenkung
Jedoch gehört auch ein emotionaler Faktor zum Lernen. Schließlich sollst du auch Spaß haben und das Lernen dadurch als angenehmer empfinden. Studien zeigen hier, dass Gruppenarbeit bei vielen Studierenden gut ankommt, und zwar aus folgenden Gründen:
- Problemlösung
- Lernen und Testen
- geteilter Arbeitsaufwand
- gemeinschaftliches Erlebnis
Eine allgemeingültige Aussage ob Lerngruppen dich voranbringen oder bremsen, können wir hier also nicht treffen. Die beste Idee ist es wahrscheinlich, zunächst alleine zu lernen und anschließend in Gruppen zu wiederholen. Doch letztendlich musst du die Vor- und Nachteile für dich abwägen und selbst entscheiden.