Mythos Lerntypen
“Mythen sind öffentliche Träume, Träume sind private Mythen.” Joseph Campbell, Mythologe
Wahrscheinlich hast du in deinem Leben schon viele Mythen gehört. Einige sind sehr alt, zum Beispiel die Legende des versunkenen Atlantis. Andere sind jünger, wie die berühmte Fünf-Sekunden-Regel. Demnach ist heruntergefallenes Essen auf dem Boden noch fünf Sekunden genießbar, bevor sich Bakterien darauf niederlassen. In Zukunft also auf die Uhr schauen, wenn dir ein Stück Schokolade herunterfällt!
Im Übrigen wurde deine Schokolade bereits beim Öffnen der Packung kontaminiert, als sie mit deinen Händen und der Luft in Berührung kam. In diesem Sinne: Guten Appetit! ;-)
In unserer Gesellschaft begegnen wir tagtäglich solchen Geschichten. Die meisten davon haben für uns keine Bedeutung, sind aber ganz interessant anzuhören. Denk nur mal an die griechische Mythologie. Nichtsdestotrotz kann es sehr problematisch werden, wenn Menschen anfangen, den Inhalt als Wahrheit ernst zunehmen.
Eine dieser Legenden ist die der unterschiedlichen Lerntypen. Du hast bestimmt schon davon gehört, dass es für jeden eine bevorzugte Methode des Lernens geben soll, die maximalen Erfolg garantiert. Dieser Artikel soll dir zeigen, was daran stimmt, was davon sehr weit hergeholt ist, wie diese Denkweise dein Lernen beeinflusst und vor allem, warum sich diese Geschichte auch im 21. Jahrhundert so hartnäckig in den Köpfen der Menschen hält.
- Mythos oder Realität?
- Warum hält sich der Mythos so hartnäckig?
- Fazit
- Das Wichtigste in Kürze
- Literaturquellen
Mythos oder Realität?
Lerntypen sind eine sehr subjektive Kategorisierung, die besagt, dass es für jeden Menschen die perfekte Lernmethode gibt. Wahrscheinlich hast du auch schon mal von den sogenannten visuellen, haptischen und auditiven Lerntypen gehört. Vielleicht hast du dich sogar selbst in einer dieser Beschreibungen wiedergefunden und dein Lernen darauf ausgerichtet.
Unglücklicherweise zählen die Lerntypen zu den größten Mythen überhaupt. Und trotzdem glaub fast jeder daran! Etwa 95% der Lehrenden weltweit geben an, dass sie ihren Unterricht sogar nach diesem modernen Märchen ausgerichtet haben. Aber was ist daran eigentlich so falsch?
Das Problem mit der Evidenz
Alles was wir als wahr empfinden, muss in irgendeiner Form sichtbar oder bewiesen sein. Deshalb glauben wir auch nur als Kinder an die Zahnfee oder den Weihnachtsmann. Und wie kann man etwas am besten nachweisen?
Klar, mit einer wissenschaftlichen Untersuchung. Allerdings ist es gar nicht so einfach, eine unabhängige, objektive, faktenbasierte Studie ohne Verzerrungseffekte durchzuführen. Deshalb variiert die Qualität von Studien auf einer enormen Bandbreite zwischen “Nobelpreis verdächtig” und “höchst fragwürdig”.
Unglücklicherweise fallen die vielen Studien über Lerntypen in die letzte Kategorien. Glaubt man führenden Lernpsycholog:innen, beginnt das Problem bereits beim Studiendesign. Denn Korrelation impliziert keinen Kausalzusammenhang. Das ist wahrscheinlich der größte Irrtum bei statistischen, wissenschaftlichen Analysen.
Nur weil jemand, der sich selbst als “visuellen Lerntyp” identifiziert, ein Thema mit Bildern und Diagrammen besser versteht und im Kopf behält, muss das nicht bedeuten, dass dies die einzig nützliche Methode ist. Studierende können auch auf ganz anderen Wegen genauso gut vorankommen.
Die Datenlage lässt eine solche Schlussfolgerung nicht zu. Es ist sogar fraglich, ob Lernergebnisse überhaupt in einen Zusammenhang mit Lernmethoden gebracht werden können, denn schließlich werden die Methoden von sehr vielen subjektiven Faktoren beeinflusst.
Ein Beispiel: Wenn du am liebsten mit Bildern lernst und das einzige Material, das du zur Verfügung hast Notizen sind, ist es wenig verwunderlich, wenn du beim Lernen eher demotiviert bist. Deshalb wird das Ergebnis vermutlich auch weniger gut sein. Die Lernmethode selbst ist also gar nicht so entscheidend für das Ergebnis wie deine Motivation.
Nur weil du vielleicht den einen oder anderen Weg bevorzugst, bedeutet das nicht, dass du mit einer anderen Methode schlechtere Ergebnisse erzielt hättest. Mit deiner starren Denkweise verschließt du dich nur gegenüber anderen Vorgehensweisen.
Sobald das Studiendesign fragwürdig ist, wird es schwierig, verlässliche, objektive und unverzerrte Daten zu bekommen. An dieser Krankheit leiden die meisten Studien über Lerntypen. Wenn dein Abendessen von Grund auf falsch zubereitet wird, kann es ja auch nicht schmecken. Du verstehst, was ich meine!
Um einen verlässlichen Ansatz für eine Studie zu bekommen, müsste man die Lernenden in Kategorien einteilen und dann zufällig eine Lernmethode ziehen lassen. Um einen Zusammenhang zwischen Lerntyp und Methode herzustellen, müssten die Daten zeigen, dass beispielsweise alle Studierende, die als auditive Lerner kategorisiert wurden, bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie eine auditive Methode nutzen. In diesem Fall zum Beispiel das Hören von Informationen in einer Vorlesung. Nur wenn dieser Zusammenhang gegeben ist, kann die Studie als valide, also aussagekräftig gelten.
Im Bezug auf Lerntypen hatte nur eine Hand voll Studien ein vernünftiges Design und diese widerlegten alle den Zusammenhang zwischen Typ und Methode. Scheinbar haben zuvor einige Experten aus den Daten das gelesen, was sie finden wollten…
Das Problem der vielfältigen Einflüsse
Nehmen wir aber einfach mal an, Lerntypen würden existieren. Die erste Schwierigkeit bestünde doch bereits bei der Einteilung. Woher will man wissen, ob jemand haptisch lernt? Gibt es dazu irgendeinen ausgeklügelten und universal anwendbaren Test oder hängt das nicht viel mehr von einer persönlichen Einschätzung und Entscheidung ab?
Die Auswahl einer Lernmethode schließt viele verschiedene Faktoren mit ein, zum Beispiel Töne, Licht, Temperatur, Gestaltung, persönliche Stärken und Schwächen, Flexibilität, Tageszeit, Motivation, Hartnäckigkeit, Unabhängigkeit und Interesse. Mit anderen Worten, deine Persönlichkeit, deine Lernumgebung und deine Gefühle zu einer bestimmten Tageszeit beeinflussen deine Auswahl.
Wenn du also gefragt wirst, welche Lernmethode du bevorzugst, kannst du das vielleicht für den Moment sagen. Deine Antwort wird allerdings von den Faktoren der obigen Liste bestimmt, die dir im Moment sehr wichtig sind. Die gerade nicht so wichtigen ignorierst du, wodurch du sie auch nicht in deine Entscheidung mit einbeziehst.
Frag dich also am besten selbst einmal, ob die Entscheidung für den ein oder anderen Lernstil wirklich typabhängig ist oder nicht viel mehr von deiner Umgebung beeinflusst wurde? Außerdem, was ist mit den hochbegabten Studierenden? Die passen in der Regel in keine der festgelegten Lerntyp-Kategorien.
Wenn du diesen Überlegungen noch die oben diskutierte mangelnde Evidenz hinzufügst, landest du schnell in einer philosophischen “Was war zuerst? Die Henne oder das Ei?”- Debatte. Mit dem Endergebnis, dass du keinen vernünftigen Ansatz findest, dem du einfach folgen kannst, um zum Beispiel Anatomie zu lernen. Hoffentlich denken deshalb auch Dozent:innen in diesem Punkt bald um…
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Warum hält sich der Mythos so hartnäckig?
Die Befragung der Dozent:innen, bei der 95% zustimmten, stammt aus dem Jahr 2014. Ja, schon ziemlich lange her! Aber immerhin schon im 21. Jahrhundert. Der Mythos scheint trotzdem tief verankert zu sein und nicht nur vorübergehend, wie eine kleine Wolke, die gerade dabei ist, sich aufzulösen.
Kein Wunder, denn es existieren sehr viele Artikel, die auf Grundlage der falschen Datenauswertungen geschrieben wurden. Aber selbst wenn es nur wenige richtige Quellen gibt, wie kann es sein, dass die Mehrzahl der Lernenden und Lehrenden diese ignoriert?
Mangelndes Wissen
Kannst du dich noch an dein erstes Anatomie-Lernen erinnern? Worte wie zygomaticotemporal und coracobrachalis fühlten sich an, als kämen sie von einem anderen Planeten. Fehlende Erklärungen im Vorfeld machten die Verwirrtheit nicht gerade besser.
Dozent:innen und Studierenden geht es genauso, wenn es um wissenschaftliche Arbeiten, Neurowissenschaft und Gedächtnisbildung geht. Abgesehen von einigen Profis in diesem Fachgebiet, kennen sich die wenigsten damit aus. Lehrer:innen werden zum Beispiel keine neurologischen Grundlagen im Rahmen ihres Studiums vermittelt, dadurch ist die Lücke zwischen dem angesprochenen Fachwissen und allgemein bekannten Fakten in diesem Bereich sehr groß. Gerade für diese Personen ist es sehr schwierig eine Studie hinsichtlich ihrer Qualität zu beurteilen.
Natürlich muss man zugeben, in jeder Geschichte findet sich ein kleines Körnchen Wahrheit. Für die Lerntypen liegt dieses im Kortex des Großhirns, der verschiedene Anteile aufweist, die bei der Verarbeitung unterschiedlicher Informationen stärker oder weniger stark beansprucht werden. Diese Tatsache ist unbestreitbar.
Zwischen den Kortexanteilen existieren jedoch viele Verbindungen. Deshalb wäre es falsch zu glauben, bei der Verarbeitung von bestimmten Informationen würde ausschließlich nur ein Teil genutzt. Du siehst, es ist ziemlich einfach eine falsche Aussage zu bekräftigen, wenn die Rezipienten wenig von der Materie verstehen. Deswegen ist es sehr sinnvoll, sich ausgiebig mit der Neuroanatomie zu beschäftigen, findest du nicht?
Verborgenes Wissen
Auch wenn viele Studien falsch konzipiert waren, gibt es einige, die wissenschaftlichen Kriterien genügen. Diese zeigen allesamt, dass die Idee der Lerntypen ein Mythos ist. Aber warum werden diese Artikel übersehen?
Viele Unwahrheiten können sich halten, da der Gegenbeweis nur sehr schwer aufzufinden ist, sogar für Experten. Das Ganze gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen! Eigentlich ist die Herausforderung einer genauen Untersuchung bei nicht testbaren Ideen sehr niedrig und das Problem des Studiendesigns haben wir ja bereits erörtert.
Wenn man aber bedenkt, dass viele sich nicht gut in Neuroanatomie auskennen, werden bestimmte Informationen eben verpasst, falsch interpretiert oder sogar ignoriert. So wird aus einer Idee, die zunächst ein kleiner harmloser Schneeball war, eine herabstürzende Lawine. Der Mythos bleibt unüberprüft, verbreitet sich und erreicht das 21. Jahrhundert.
Die menschliche Natur
Wir sind alle Menschen, deshalb neigen wir dazu, Ergebnisse durch Emotionen, kulturelle oder religiöse Einflüsse zu verzerren. Jeder Mensch möchte glauben, er wäre einzigartig und besonders. Deshalb sind wir Ideen sehr zugetan, die solche Individualität herausstellen. Ist man ein bestimmter Lerntyp mit dazu passender Methode, fühlt man sich frei und hebt sich von seiner Umgebung ab. Ein schönes und gutes Gefühl für jeden Menschen.
Außerdem besteht immer der Wunsch, die eigenen Annahme zu bestätigen. Möchte jemand beweisen, dass seine Aussage wahr ist, wird er automatisch Literatur auswählen, die das ebenfalls tut und dazu neigen, Gegenstimmen zu ignorieren.
Zu guter Letzt fällt es Menschen auch leichter, sehr eingängige Ideen als wahr zu akzeptieren. Ist etwas erst einmal weit genug verbreitet und bekannt, wird es nur selten angezweifelt. Das passiert sogar unter Fachleuten und natürlich noch mehr unter Nichtexperten. Das Ganze käme der Idee gleich, Einsteins Relativitätstheorie zu widerlegen. Niemand wagt überhaupt daran zu denken!
Fazit
Nehmen wir mal an, du hast der Legende geglaubt und nutzt sie vielleicht sogar regelmäßig. Was ist das Problem dabei?
Ab dem Moment, in dem du dich in eine Schublade steckst, verweigerst du dir selbst neue Möglichkeiten. Am Ende siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, weil du dich so in eine bestimmte Methode verrennst. Du ignorierst vielleicht nützliche Strategien, die dir bei einem bestimmten Thema weiterhelfen könnten. Das wird besonders problematisch, wenn die angewendeten irgendwann einmal nicht gut funktionieren.
Schau nicht nur auf das, was genau vor dir liegt sondern auch mal über den Tellerrand und erweitere deine Möglichkeiten!
Die Alternative lautet, sammle ein paar verschiedene Lernmethoden die dir liegen, damit du immer die passende griffbereit hast. Eigentlich ist es doch sehr gut, dass die Sache mit den Lerntypen nur eine Legende ist, denn nun kannst du viele neue Dinge auszuprobieren. Ein guter Anfang wären zum Beispiel die Kenhub Artikel über Lernstrategien. Dort findest du eine Vielzahl an Methoden, die alle Sinne mit einschließen und Informationen über den Lernprozess als solches.
Möchtest Du Anatomie mit Anki, einem Malbuch oder mit Spielen lernen? Vielleicht willst du aber auch mehr über die Macht der aktiven Wiederholung erfahren und wie du diese am besten nutzt. Schau dir einfach alles an und probiere es aus, damit du bald eine eigene Kollektion von Lernmethoden dein Eigen nennen kannst.
Was solltest du von diesem Artikel behalten? Am besten, dass es keine Lerntypen gibt. Du bist nicht visuell, auditiv oder haptisch. Du bist ein Individuum, das mit einer großen Bandbreite von verschiedenen Techniken lernen kann. Nutze die Vorteile aus dieser Erkenntnis und beschränke dich nie mehr, wo es nicht nötig ist!
Das Wichtigste in Kürze
Lerntypen sind subjektive Kategorisierungen, die vorgeben, dass jeder mit nur einer bestimmten Lernmethode die besten Ergebnisse erzielen kann. Man spricht dabei von visuellen, haptischen und auditiven Lerntypen. Unglücklicherweise ist das ein Mythos, den fast jeder glaubt. Das liegt vor allem an:
- mangelnder Evidenz
- dem nicht vorhandenen Bezug zwischen Korrelation und Kausalität
- schlechtem Studiendesign
Dazu kommt eine nahezu unmögliche Einteilung der Studienteilnehmer:innen in einen bestimmten Lerntyp, die von vielen zusätzlichen Faktoren beeinflusst wird.
Trotzdem ist der Mythos über Lerntypen sehr tief in der Gesellschaft und unserem Bildungssystem verwurzelt. Dies liegt vor allem an:
- Mangelndem Wissen der Lehrenden über Neurowissenschaften, durch das sie Studien nicht hinsichtlich ihrer Qualität beurteilen können.
- Der schwierigen Auffindbarkeit von Gegenbeweisen zu den exisiterenden Studien.
- Und letztlich an der menschlichen Natur, die nur allzu gerne überzeugend formulierte Ideen als wahr akzeptiert.